Fotos: Motorradtest.de
Die neue Versys 1100 sieht aus wie die alte Versys 1000, hat aber ein Motor-Update bekommen und wurde in vielen Details überarbeitet. Wie sich die neue Versys in der SE-Variante fährt und ob sie tatsächlich tourentauglich ist, haben Markus und Dietmar über die Ostertage gecheckt.
Cross-Over oder Adventure-Bike?
Die Kawasaki Versys war schon immer ein besonderes Motorrad: Ein Adventure-Bike mit Reihenvierzylinder-Motor gibt es sonst nämlich nirgends. Aber ist sie überhaupt ein Adventure-Bike oder ist die Versys mit ihrem 17 Zoll Vorderrad nicht doch eher ein Cross-Over Bike? Streng genommen ist sie tatsächlich ein Cross-Over, sie fühlt sich im Sattel aber ganz klar nach Adventure nach, obwohl sie natürlich für das Gelände überhaupt nicht geeignet ist. Die neue Versys 1100 (ohne SE) gibt es leider nur in Schwarz-Grau, die von uns getestete SE gibt es zumindest in zwei Farben. Das wäre dann auch schon der erste Verbesserungsvorschlag an Kawasaki: Mehr Farben, bitte.
Farben der SE: Grau-Schwarz-Grün oder Weiß-Schwarz.
Unterschiede SE vs. Standard-Versys
Die Unterschiede zwischen der Standard-Versys und der SE liegen aber nicht nur in der Farbe - die SE glänzt vor allem mit dem semi-aktiven, elektronisch verstellbaren Skyhook Fahrwerk, welches tadellos funktioniert. Außerdem gibt es in Serie Heizgriffe, einen QuickShifter, Handy-Connectivity mit Sprachsteuerung, ein adaptives Kurvenlicht, Handprotektoren sowie ein TFT-Display. Die zugegeben spürbaren Unterschiede lässt sich Kawasaki allerdings teuer bezahlen: Die SE kostet mit 17.745 Euro satte 3.800 Euro mehr als die Standard-Versys.
Sitzbank: Sehr bequem.
Wer dann auch noch die Ausstattungsvariante "Grand Tourer" mit 28 Liter Koffern inkl. Innentaschen, Tankpad, Dekorteilen, LED-Nebelscheinwerfer, 47 Liter Topcase, Sturzpads und GPS-Halterung dazu bucht, landet bei knapp unter 20.000 Euro. Hört sich nach viel an, ein Blick beim Wettbewerb lässt die Kritiker aber ganz schnell verstummen.
Abmessungen / Sitzprobe
Die Sitzprobe auf der Versys 1100 unterstreicht den Tourencharakter dieser Maschine. Fahrer und Beifahrer sitzen aufrecht, äußert bequem und haben viel Platz. Die Sitzhöhe von 840 mm ist für uns perfekt und passt hervorragend zur ergonomischen Abstimmung der Versys. Sie ist mit 259 Kilogramm allerdings recht schwer und das merkt man auch beim Rangieren.
So entspannt sitzt es sich für alle Probanden auf der Versys 1100.
360 Grad Rundgang um die Kawasaki Versys 1100 SE
Technik der neuen Versys 1100 SE
Das Cockpit der 1100er wurde zwar überarbeitet, die Kombi aus analogen Drehzahlmesser und digitalem Display wurde aber beibehalten. Uns gefällt das gut, aber der eine oder andere wird sich fragen, ob ein größeres TFT-Display nicht zeitgemäßer gewesen wäre.
Die Ausstattung der Versys SE ist super: Es gibt Kurven-ABS, drei feste und ein konfigurierbaren Fahrmodus, und jede Menge Spielkram wie z.B. die Anzeige von G-Kräften (Beschleunigung und Verzögerung) und sogar eine Lean-Angle (Schräglagen) Anzeige. Das Cockpit ist wirklich extrem auskunftsfreudig und die Anzeigen sind sehr gelungen, weil gut ablesbar. Es gibt zwei Anzeige-Modi und natürlich lässt die Versys SE auch mit einem Smartphone koppeln.
Die dazugehörige Rideology-App gefällt uns allerdings gar nicht. Wir haben z.B. keine Möglichkeit gefunden, eine Navigation auf das Display zu legen und die vorhandenen Funktionen der App sind aus unserer Sicht eher Spielkram. Nun ja, vermutlich wird es da demnächst ein Update geben und vermutlich dann auch zumindest eine Pfeil-Navigation - warten wir mal ab...
Beim Licht macht Kawasaki (fast) alles richtig: Voll-LED ist vorhanden, ebenso eine Warnblinkanlage sowie ein sehr schön in die Verkleidung integriertes Kurvenlicht. Für uns allerdings nicht nachvollziehbar ist die fehlende Blinker-Rückstellung.
Serien Endschalldämpfer. Etwas klobig, klingt aber gut!
So fährt sie sich
Die neue Versys klingt auch mit dem Serien-Endschalldämpfer sehr potent. Überraschend gut hat uns auch der Sound im Sattel gefallen. Gerade im Vergleich zum Schwestermodell Ninja 1100 hat die Versys 1100 offenbar ein stärkeres Update bei der Airbox erhalten. Jedenfalls klingt das Ansaug-Geräusch echt amtlich. Den Soundcheck gibt es wie immer rechts oben.
Auf der Straße setzt sich dann der Adventurebike-Eindruck der Sitzprobe nahtlos fort. Die Maschine liegt satt auf der Straße und fühlt sich nach "langer Reise" an. Der breite Lenker liegt fluffig zur Hand und man hat als Fahrer das Gefühl, die Maschine sehr gut kontrollieren zu können. Es fühlt sich übrigens auch nicht so an, als ob die Versys ein 17 Zoll Felge vorne hätte (hat sie aber!), so stabil liegt sie auf der Platte. Der Lenkeinschlag ist allerdings nicht ganz so üppig wie bei "echten" Adventure-Bikes, der Wendekreis ist daher eher mittelmäßig.
Neuer Vierzylinder mit jetzt 1.099 ccm und 135 PS sowie 112 Nm bei 7.600 Umin.
Das Besondere an der Versys ist wie gesagt sein Reihenvierer, der für ein Motorrad dieser Klasse ein ungewohnt sanftes Vorankommen ermöglicht. Es ist einfach herrlich, wie gelassen der 1100er auch mit niedrigen Drehzahlen umgeht. Kommt ein Dorf und man muss auf 50 oder sogar 30 km/h runter, kann man den gewählten Gang ruhig drin lassen - und nach der Ortschaft entspannt wieder Gas geben. "Kann ich mit meinem Boxer auch" mag der eine oder andere jetzt denken. Mag sein, aber es fühlt sich eben nicht so gechillt an wie mit der Kawa!
Der Motor steht über das gesamte Drehzahlband sehr gut da. Egal ob unten, in der Mitte oder obenrum: Es steht stets ordentlich Dampf zur Verfügung. Der Unterschied zur Vorgängerin mit 120 PS ist schon spürbar, vor allem bei niedrigeren Drehzahlen. Die neue Versys hat eben nicht nur 15 PS mehr bekommen, sondern auch 12 Nm mehr Drehmoment!
Ich (Dietmar) bin die Versys 1100 übrigens kurz nach der ebenfalls neuen Ninja 1100 gefahren und war über eine Sache dann doch überrascht: Die Ninja fühlte sich für mich noch "turbiniger", samtiger und seidiger an als die Versys, obwohl sie ja den gleichen Motor haben. Das kann an meiner Tagesform gelegen haben, vielleicht hat Kawa aber auch das Mapping etwas anders ausgelegt - wie auch immer, auch die Versys fühlt sich nach Vierzylinder an, bei der Ninja war dieses Gefühl aber nach meinem Empfinden noch wesentlich stärker ausgeprägt.
Bremsanlage vorne: 4-Kolben Festsättel an 310er Doppelscheiben, radial verschraubt. Bremst gut!
Das Fahrwerk der Versys lässt keine Wünsche offen, es agiert sozusagen "unauffällig im Hintergrund" und bügelt alles weg, was die Straße so an Ungereimtheiten zu bieten hat. Das Skyhook-Fahrwerk ist eine wundervolle Angelegenheit, vor allem was die einfache Bedienung angeht. Wir sind keine Standard-Versys gefahren, würden aber mal vermuten, dass auch diese ein klasse Fahrwerk bietet. Die Abstimmung ist eher auf der komfortablen Seite, was sehr gut zu diesem Bike und dem Gewicht der Maschine passt. Die Maschine legt sich absolut linear in Kurven und macht überhaupt einen sehr berechenbaren Eindruck. Besonders stark ist wieder einmal die Bremsanlage! Die radial angebrachten 4-Kolben Festsättel beißen kräftig und gut dosierbar zu und bringen die Fuhre wenn nötig in Nullkommagarnix zum Stehen.
Was uns sonst noch aufgefallen ist
Okay, über die USB-C Buchse haben wir schon gemeckert, aber es gibt noch weitere Dinge, die man verbessern könnte. Das Windschild bietet zwar einen wirklich guten Windschutz, aber die Verstellung könnte man sicherlich noch etwas einfacher gestalten und auch der Verstellweg könnte größer ausfallen. Der QuickShifter funktioniert zwar gut und weich, er muss aber nach den "alten Regeln der QuickShifterei" bedient werden. Runtertippen unter Gas funktioniert also nicht. Außerdem machte das Getriebe gerade nach unten einen etwas weichen Eindruck. Zugegen, dass ist Meckern auf hohem Niveau, aber die Hersteller möchten ja immer gerne wissen, was man noch besser machen kann - und ein paar Dinge haben wir diesbezüglich tatsächlich gefunden. Und bitte die App ganz schnell überarbeiten und beim nächsten Modellwechsel die automatische Blinkerrückstellung nicht vergessen.
Bedienung dank vieler Tasten logisch und gut. Aber diese USB-Dose!
Wie bei Kawasaki üblich gibt es sehr erfreuliche vier Jahre Garantie auch für die Versys 1100 SE. Der jährliche Service ist spätestens nach 12.000 Kilometern fällig. Wettbewerber zu finden, ist bei der Versys 1100 gar nicht so einfach. Es sind unserer Meinung nach entweder Cross-Over Bikes mit Reihenvierern (Suzuki GSX-S 1000 GX und BMW S 1000XR) oder Adventure-Bikes mit Tendenz zum Cross-Over (Ducati Multistrada V2S). Aber Ihr merkt schon, so viele passenden Wettbewerber fallen uns nicht wirklich ein. Ein gutes Zeichen, denn das bedeutet, dass die Kawasaki Versys 1100 SE ein sehr eigenständiges Motorrad ist. Wer auf Reihenvierer steht, aber aufrecht sitzen und lange Touren machen möchte, für den ist die neue Versys 1100 daher ein echter Tipp.